Einige statistische Notizen über die Lage Posens (1870) Heimatkunde Provinz Posen

Aus: „Das Verhältniß der Provinz Posen zum Preußischen Staatsgebiete.“ Von Emil Carl Baron Hundt von Hafften auf Turowo. Berlin, Verlag von Friedrich Kortkampf, im Jahr 1870.

Einige statistische Notizen über die Lage Posens als Einleitung mit Verweisen auf das offizielle Werk: Der Boden und die landwirthschaftlichen Verhältnisse der Preuß. Staaten vom Königl. Regierungs-Rath Meitzen, auf das statistische Handbuch über die Provinz Posen, im Verlage von Louis Türk in Posen erschienen, aus die Landesgesetzgebung für Posen von Klebs, und auf Herzogs gewerbliche Entwickelung des Regierungsbezirks Posen. Aus „Das Verhältniß der Provinz Posen zum Preußischen Staatsgebiete.“

Lage und Verbindung

Posen hat außer Kohlen seine Schätze nicht unter der Erde, sondern auf der Erde. Schon jetzt fängt die Provinz an, die Kornkammer Preußens zu werden, das gelobte Land, wohin sich die Blicke der Landwirthe des Westens wenden, die für ihre Betriebsamkeit und Intelligenz einen weiteren Spielraum und ein neues Terrain suchen. Und in Bezug auf Lage und Bodenverhältnisse hat Posen wirklich einige Eigenthümlichkeiten, welche es für den Landbau besonders geeignet und gleichsam Zukunft versprechend machen.

Getreidefeld bei Neustadt-Pinne, Kreis Neutomischel (12. August 2014, dilibra.com)

Bei einem Flächeninhalt von 532 Quadrat-Meilen, sind seine Entfernungen von Osten nach Westen, von Süden nach Norden fast gleich groß (33 und 38 Meilen), und weil es eine in das übrige östliche Preußen gleichsam hineingekeilte Lage hat, müssen alle großen Verkehrslinien von Schlesien nach den nördlichen und westlichen Provinzen, oder von Rußland nach dem Westen hin, die Provinz berühren, respektive durchschneiden. Diese eigenthümliche Lage Posens ist geeignet, die Provinz zu einem regelmäßigen Sitz des Zwischenhandels, der natürlichen Entrepots zu machen, das sicherste Mittel gegen Hungersnoth und das beste Mittel gegen Preisvertheuerung, eine Stellung, welche Posen übrigens schon einmal in der Geschichte eingenommen hat, und wozu es seine Lage und die Ausdehnung seiner Verkehrslinien berechtigen. Schon jetzt sehen wir neben der Stettin-Posener und Posen-Breslauer, die große Märkisch-Posener Bahn, gleichsam das zukünftige Hauptglied einer Mittel-Europäischen Verkehrslinie, welche von Nischnei-Novgorod über Warschau, Posen, Frankfurt, Halle, Köln den Westen erreicht; so daß, wenn die übrigen im Bau begriffenen Bahnen, welche via, Thorn, Bromberg die Petersburger Bahn auch über Posen leiten, vollendet sind, die Provinz nahezu halb so viel Meilen Eisenbahnen, wie Chausseen haben wird. In Bezug auf Chausseen aber ist die Provinz Posen die drittbest bestellte, wie sie der Reichshauptstadt Berlin die drittnächst gelegene ist. Auch in Bezug auf seine Bevölkerung überwiegt die Provinz Posen die Provinzen Preußen, Brandenburg und Pommern und zählt circa 3000 Menschen auf die Quadrat-Meile. Diese für östliche Provinzen verhältnißmäßig starke Einwohnerzahl kommt einmal daher, weil die polnische Bevölkerung, abgesehen vom polnischen Adel, der gerne emigrirt, noch lieber konspirirt, sich selten zur Auswanderung entschließt, sodann hat sie in der ebenen Lage des Landes ihren Grund, dessen höchster Punkt sich kaum 800 Fuß über dem Meeresspiegel erhebt und überall fast den Anbau zuläßt. Daher ist denn auch die fruchttragende Fläche Posens im Verhältniß zu den anderen Provinzen des preußischen Staates die größte, wenn auch nicht die intensivste, so daß 7/8 des ganzen Bodens anbaufähig genannt werden können, 3/4 aber schon angebaut sind.

Besitzstand.

Es ist deshalb eine erfreuliche Thatsache, daß die Kapitalien der deutschen Fürsten und großen Industriellen (Strousberg mit 40.000 Morgen) den Boden der Provinz immer mehr befruchten; und schon jetzt gehören von den 11 Millionen Morgen Land und von den 2035 selbstständigen Gütern allein 107 dem Königl. Domainenfiskus, die ein Areal von 650.000 Morgen umfassen, von denen der sechste Theil Ackerland, aber über eine halbe Million, also der zwanzigste Theil des ganzen Grund und Bodens, Königliche Forsten sind, ein sehr günstiges Verhältniß, das im Hinblick auf die forstwirthschaftliche Anschonung von Seiten des Staates der Entwaldung und fortschreitenden Holzarmuth in dieser Provinz einen hohen Damm entgegen wirft. Neben dem Könige von Preußen sind noch 14 deutsche und auswärtige Fürsten in der Provinz ansässig (König der Niederlande, König von Baiern, Großherzog von Baden, Herzog von Coburg-Gotha, Herzog von Anhalt-Dessau, Prinz der Niederlande, Herzog zu Sachsen, Prinz Reuß, Prinz Holstein, Herzogin von Accerenza, Prinz Schönburg, Fürst Thurn und Taxis) die ebenfalls einen Besitzstand von 250.000 Morgen haben, von denen das dem Fürsten Thurn und Taxis gehörige Fürstenthum Krotoschin, allein 54.000 Morgen umfaßt.



Klima und Bodenarten.

In Bezug auf die Vertheilung der Bodenarten hat Posen zwar nicht so viele schwere Lehmböden, wie die östlichen Provinzen, aber dafür auch am wenigsten Unland in der ganzen preußischen Monarchie. Der lehmige Sand und sandige Lehmboden, durchzogen mit Mergeladern, also diejenigen Flächen, welche die sicherste Durchschnittsernte gewähren, machen nahezu die Hälfte der ganzen Ackerbaufläche aus, und die ökonomische Ausbeutung der leichten Böden durch Lupinenbau, Anschonung oder durch den Kartoffelbau zur Brennerei ist in keiner der älteren Provinzen soweit vorgeschritten als in Posen.

Ueberhaupt erfreut sich die Provinz großer landwirthschaftlicher Regsamkeit und hat Männer wie Kennemann und Lehmann aufzuweisen, welche der Intelligenz, mit der sie die Kräfte der Natur zu benutzen wußten, ihr bedeutendes Vermögen verdanken; andere wie Mollard und von Sander, die als Musterwirthe bekannt sind, und in uneigennütziger Hingabe an das Gemeinwohl fast alle landwirthschaftlichen Fortschritte bei sich zur Anwendung und Darstellung bringen. Auch unter den Polen finden sich fast in jedem Kreise Musterwirthe wie Kwilecki-Oporowo und Kornatowski-Pozarowo. Wir dürfen hier, von gerechtem Stolze getrieben, ebenfalls nicht unerwähnt lassen, daß der erste preußische Grundbesitzer, welcher die beiden Lebensfragen der Landwirthschaft, „Vertretung und Kredit“ in drei Kongressen mit so vielem Geschick leitete, Herr von Saenger aus Posen ist, derselbe Mann, der jetzt wieder mit Herrn von Bethmann-Hollweg sich an der Begründung des vielversprechenden „Central-Boden-Kredit-Aktien-Unternehmens“ betheiligt hat, eine Erweiterung und Centralisation des landschaftlichen Prinzips, das endlich auf Baarfonds basirt ist. Die Mustergültigkeit der „neuen posenschen Landschaft“, mag wohl beim Entwurf der Statuten mit als Vorbild gedient haben.

Hopfenfeld in Schichagora, zwischen Paprotsch und Bukowiec (17. August 2015, dilibra.com)

Auch in klimatischer Beziehung hat Posen einige Vorzüge. Durch feine südlichere Lage, mit milderem geregelterem Klima als Pommern, Mecklenburg, die Elbherzogthümer, Ost- und Westpreußen ausgestattet, verdient es vor dem schlesischen wegen des Nichtvorhandenseins der Gebirge noch den Vorzug und macht des geringeren Temperaturwechsels wegen sogar den Weinbau möglich, vor allen Dingen aber den Tabaksbau und Hopfenbau rentabel, der durch den Umsatz von 20.000 Centner allein fast eine Million Thaler in die Provinz bringt und in Neutomysl sogar die Bewunderung bairischer Hopfenbauer erregt. Da von den 532 Quadrat-Meilen Flächeninhalt, allein 5 Meilen Seen sind, so würde ein Kanalisirungssystem, welches, ähnlich wie der Bromberger Kanal die Weichsel mit der Oder, die Warthe mit diesem Flusse in Verbindung setzte, nicht blos auf den Verkehr gleichsam Wunder wirken, sondern durch Entwässerung gleichzeitig dem Ackerbau große Flächen einverleiben, wie auf diese Weise im Obra-Bruche jetzt schon circa 60.000 Morgen gewonnen sind.

Anmerkung: In Kanada verfolgt man mit der Anlage der Kanäle einen vierfachen Zweck: Entwässerung, Düngung, Verbindung und Eisenbahnbau auf dem aus dem Kanal entnommenen Boden. Da Friedrich der Große diese Gegenden immer sein Kanada oder sein Trockenseeland zu nennen pflegte, so sollte man doch den Fingerzeig für ein Kanalnetz, welches die vielen Binnengewässer, ähnlich wie in Kanada bieten, auch ähnlich wie dort benutzen, zumal das eigentlich landwirthschaftliche Medium, was Holland und Belgien reich macht, der billigste Lastträger, das Wasser ist, denn die selbe Kraft, welche auf der Chaussee in einem gegebenen Augenblicke 60 Pfd. bewegt, treibt auf der Eisenbahn 400 Pfd., auf dem Kanal aber 1200 Pfd. Dabei sind diese Beförderungs-Straßen keine Rivalen, sondern gegenseitige Ergänzungen; die Eisenbahn behält das Monopol der Schnelligkeit, der Kanal den billigen Transport der schweren Güter, die Chausseen übernehmen die Vermittelung Beider.

Was die Bevölkerung von 1 1/2 Millionen betrifft, so stehen sich die deutsche und die polnische beinahe gleich gegenüber, ja erstere ist sogar in den westlichen Städten der Provinz entschieden dominirend und mit ihr der Protestantismus, der im Ganzen bereits 1/2 Million Anhänger zählt; daher ist auch schon fast die Hälfte des Grundbesitzes in deutschen Händen. Trotzdem wird derjenige, welcher die polnische Landbevölkerung mit ihrem Arbeitsgeschick, ihrer Anspruchslosigkeit und ihrer Leistungsfähigkeit kennen gelernt hat, ihr nicht nur wegen der ungleich billigeren Lohnverhältnisse, sondern auch wegen ihrer Leichtumgänglichkeit vor den schwereren und anspruchsvolleren Arbeitern des nördlichen Deutschlands den Vorzug geben.

Viezucht.

In Bezug auf die Pferdezucht wird Posen zwar von Ostpreußen bedeutend übertroffen (es kommen nur 300 Pferde auf die Quadrat-Meile, in Ostpreußen durchschnittlich die doppelte Zahl), aber auch in dieser Hinsicht wird der fortschreitende Futterbau, der in den mergelreichen Gegenden für Luzerne und Esparsette eine goldene Zukunft in Aussicht stellt, sowie die fortschreitende Kanalisation und Drainage die fruchtbaren Wiesen und Weideflächen vermehren und daher günstig auf die Pferdezucht einwirken. Schon jetzt zeigt sich, begünstigt durch die Nähe des vortrefflichen Landgestüts in Zirke, im Birnbaumer und Buker Kreise auf den Gütern Rozbitek, Kwilcz, Wittuchowo und Neutomysl ein sehr bemerkenswerther Aufschwung der Pferdezucht, und sehen wir die Aufzucht nicht allein dem Bedürfniß starker Ackerpferde, sondern sogar schon den Anforderungen des Sport genügen; das beste Zeichen, wie die Provinz anfängt, sich auch nach dieser Richtung hin selbst genug zu sein und wohl zu fühlen.

Ackerland bei Groß Luttom, Kreis Birnbaum (15. August 2015, dilibra.com)

An Umfang der Rindviehzucht steht Posen zwar Schlesien und selbst der Rheinprovinz nach, nimmt jedoch wegen seiner stark getriebenen Schlempe-Mästung, sowohl was den Export von Rindvieh, als auch den von Fettschaafen betrifft, eine hervorragende Stelle ein. Auffallender Weise ist auch die Viehvermehrung in dieser Provinz am allerstärksten gewesen, denn auf 1000 Stück Rindvieh des Jahres 1820, kommt im Jahre 1870, also nach 50 Jahren, die doppelte Zahl, während in Brandenburg, Pommern und Sachsen die Vermehrung nur 20 pCt. und im Rheinlande nur 70 pCt. betrug. Was die Schafhaltung betrifft, so hat Posen verhältnißmäßig einen bei Weitem stärkeren Tauschwerth der Schaafe aufzuweisen als England, Belgien, Frankreich und überhaupt andere kontinentale Länder, wird jedoch durch Pommern und einige Theile Schlesiens darin übertroffen; es ist daher fraglich, ob nicht bei den fortlaufend sinkenden Preisen für Rohwolle, sich auch hier der wirthschaftliche Lehrsatz bewähren wird, daß die Wolle aus immer entfernteren Gegenden geholt werden muß. So lange jedoch der große Grundbesitz in der Provinz Posen auf Kosten des kleinen fortwährend zunimmt, wird die Schaafhaltung zur Verwerthung und Ausnutzung der Boden- und Wiesenflächen unumgänglich nothwendig erscheinen, zumal die Lupine, das Hauptfutter der Negretti- und Electoral-Schaafe ganz ausnahmsweise vorzüglich in den dortigen Gegenden gedeiht. Posens Wollmarkt zählt nicht zu den bedeutendsten, aber er nimmt in ganz Deutschland die dritte Stelle ein und erzielte bis dahin die zweithöchsten Preise. Bedenkt man, daß im 13. Jahrhundert schon die polnischen Tuche eine Art Weltruf genossen haben, daß in das drap polaine sich englische und französische Könige kleideten, so wird man sich der Hoffnung hingeben können, daß nach Aufhebung der großen Eingangszölle für Tuche in Nord-Amerika eine Belebung der Tuchmanufaktur auf die Schafhaltung selbst, vortheilhaft zurückwirken muß, wie ja auch schon längst mit königlicher Unterstützung zu Rawicz eine Dampftuchmanufaktur gegründet worden ist, deren Mißerfolge, ebenso wie die der vielen anderen Tuchfabriken an der schlesischen Grenze sich diesen Augenblick allerdings konstatiren lassen.

Steuer.

Hinsichtlich des Reinertrages der Grundsteuer ist die Provinz Posen zwar nicht diejenige, welche dem Staate am Meisten einbringt, dagegen betheiligt sie sich am Gesammtertrage der Branntweinsteuer in ganz Preußen mit gerade 27 pCt., weist also die absolut, wie relativ stärkste Produktion von Brennereiprodukten auf. In den beiden Regierungsbezirken Posen und Bromberg existiren allein 472 Brennereien, die größten des Staates, mit dem intensivsten Betriebe, weil sie dreimal so viel Material mit fünfmal so gutem Erfolge verarbeiten, als z. B. 2422 Brennereien, welche in der Rheinprovinz bestehen.

Was die politische Ruhe der Provinz betrifft, so bürgt dafür der Name Steinmetz, noch mehr aber das Schicksal der russischen Polen.

Zweck der Schrift.

Warum leben nun, trotz aller dieser natürlichen Vorzüge der Provinz Posen selbst die meisten deutschen Landwirthe in solcher auffallenden Verkennung der dortigen Verhältnisse, warum herrscht oben, wenn nicht Abneigung, so doch scheinbar eine gewisse Indifferenz uns gegenüber; warum, trotzdem die Deutschen intellektuell und formell herrschen, wird Posen immer noch als eine Provinz abseits des Reiches, und außerhalb der normalen Beziehungen erachtet?! Das Großherzogthum hat bis dahin keine Gewerbeschule, während die Rheinlande deren sieben besitzen, keine Handelsschule, keine Universität, keinen höchsten Lehrstuhl für Sprache und Literatur, kein Kunstinstitut, nicht einmal eine selbstständige wissenschaftliche Prüfungs-Commission, deren Hauptsitz in Breslau ist. Dagegen hat man bei uns die Reallasten der Geistlichkeit gegenüber, den Zehnten, die exorbitant vielen katholischen Feiertage und die Jesuiten, welche sogar predigend umherreisen, sorgfältig zu konserviren gewußt, ungeachtet ein Dritttheil, das herrschende, das intelligente Dritttheil der Bevölkerung zum Protestantismus sich bekennt. Fehlt uns so das Gefühl der Integrität der Provinz, auch in anderer Beziehung fühlen wir uns stiefmütterlich behandelt. Unsern geliebten königlichen Herrn haben wir lange nicht gesehen, und die königlichen Prinzen nur bei Gelegenheit militairischer Inspektionen. Von den Ministern kennen wir nur den Handels-Minister, der einmal Regierungs-Vice-Präsident in Posen war, woher denn auch unsere handelspolitische Isolirung kommen mag. Diese übelwollende Indifferenz zeigt sich jetzt so recht wieder im Hinblick auf die Konzessionirung der Bahn Posen-Slupce-Warschau. Sechs Bahnen werden nächstens über die russische Grenze führen: Warschau-Wien, Breslau-Warschau, die Ostbahn, Marienburg-Warschau, Lyk-Bialystok, Königsberg-Petersburg, aber die Bahn Posen-Warschau, die wichtigste von allen Bahnen, weil sie die Mitte des großen russischen Reiches mit der Mitte Europas verbindet, diese Bahn unterbleibt, weil sie zufällig über Posen gehen muß.



Ich möchte daher so recht ein Herzblatt pro domo schreiben, nicht Staats- sondern Provinzial-Politik treiben. Ich denke, Jeder nützt der Allgemeinheit dadurch am Besten, daß er zur Aufklärung der besonderen Verhältnisse, in denen er lebt, nach Kräften beiträgt. Jener hochfahrende Objektivismus, der Alles aus der Vogelperspektive erkennt, ist mir nicht gegeben. Um die Verhältnisse zu beurtheilen, steige ich hinunter in’s Thal und trete in die einzelne Hütte. Dann wird zwar nicht Alles rosig erscheinen, aber auch das nebelhafte, eintönige Grau, der mehr oder minder leblosen Abstraktion weicht dem bunten Kolorit der natürlichen Farben. Auch gebe ich hier von vornherein gern zu, daß ich etwas einseitig befangen sein mag, weil ich ja die Verhältnisse von meinem Standpunkte als Landmann aus betrachte, und als Deutscher die Sache mit deutschen Augen ansehe. Die Polen pflegen zwar anzunehmen, daß in dem Augenblicke, wo der Deutsche die polnische Frage berührt, seine Urteilskraft in die schlimmste Verwirrung gerathe, trotzdem wollen wir auf die Gefahr einer unerbittlichen Kritik hin doch den allerdings oft fehlgeschlagenen Versuch der Verständigung machen. Nicht Haß und Unduldsamkeit, nicht Aufreizung, sondern Versöhnung ist die Tendenz dieser Schrift. Soweit ich durch rücksichtsvolle aber rückhaltslose Wahrheitsliebe auf Abneigung stoße, muß ich sie ertragen, soweit ich Irrthümer begehe, werde ich Aufklärung vertragen. Auf der einen Seite möchte diese Schrift die vielen Vorurtheile, welche über die Provinz und seine Bewohner herrschen mit zerstören helfen, auf der andern Seite möchte sie den Gegensatz, der künstlich zwischen Polen und Deutschen immer wieder heraufbeschworen wird, zu mildem streben; und, indem sie den Deutschen Gerechtigkeit empfiehlt, die Polen auf das große und neutrale Gebiet hinweisen, wo alle nationalen und konfessionellen Gegensätze verschwinden: auf das große Gebiet des Schaffens, der geistigen und materiellen Arbeit, von der Ueberzeugung ausgehend, daß der Staat kein Mitleid haben darf mit der Dummheit, mit der Trägheit, mit den nicht zu Ueberzeugenden und mit den Unversöhnlichen. Ich betrachte den Polonismus nicht wie ein Unglück, wie ein Mißgeschick, das ertragen werden, sondern als eine Opposition, die, wenn sie ihre edelen Kräfte der Förderung des Staates „Preußen“, entzieht, so lange bekämpft werden muß, bis sie auf jede dem Gemeinwohl verderbliche Sonderstellung Verzicht geleistet hat. Leider haben die Erfahrungen gelehrt, daß jemehr das „spezifisch polnische Element“ begünstigt, desto länger die Provinz arm, unwissend und roh bleiben wird.

Großes Theater, ursprünglich neues Stadttheater in Posen (12. August 2013, dilibra.com)

Es ist eine Phrase, wenn man die Behauptung aufstellt, es könne materiell und moralisch kein größeres Unglück gedacht werden, als der Verlust des Vaterlandes. Zunächst ist den Polen das Vaterland nicht genommen, sondern sie haben nur aufgehört in ihrem Vaterlande die herrschende Nationalität zu sein; sodann — und hierauf werden wir ausführlich zurückkommen — kann ich mir für ein verkommenes, existenzunfähiges, durch Anarchie und Revolution zerrissenes Volk kein größeres Glück denken, als die Wiedergeburt ihres Vaterlandes, welche Sklaven zu Menschen macht und an die Stelle engherziger Despoten die Träger von Humanität, Bildung und Gesittung beruft! — Welch ein Zustand, wo die schönsten Produktivkräfte eines Landes durch gouvernementale Anarchie, nationale Zerfahrenheit und Ueberhebung, allgemeine Ignoranz der Massen, gestützt auf der Doppelgrundlage der Nation und Konfession, verloren gehen! — Auch ich bin der Ueberzeugung, daß man einem ganzen Volke nicht Widerrechtlichkeit vorwerfen, daß man eine ganze Nation nicht ohne Weiteres des Meineides, des Treubruches, des Verrathes beschuldigen kann. Wenn sich Völker erheben und zu Gericht sitzen, dann sind die Regierungen niemals schuldlose Opferlämmer gewesen. In der Regel läßt sich irgend eine erbärmliche Schwäche, irgend eine gefährliche und unverzeihliche Inconsequenz nachweisen. Eine solche unverzeihliche Schwäche war der Gedanke der Demarkations-Linie! Ein Volk will regiert werden und wer das Scepter aus der Hand legt, zeigt, daß er zu schwach ist, dasselbe zu handhaben. Die Regierung ist eine große Macht, aber man muß sich ihrer bewußt, von ihr erfüllt sein, und ihr Ausdruck zu verschaffen wissen. Es giebt nichts Gefährlicheres, als eine unzeitgemäße Milde, der man die Schwäche und Unentschlossenheit anmerkt, als Zugeständnisse und Konzessionen, die man nicht ehrlich meint und die mehr oder minder abgedrungen, in dem schlechten Glauben gegeben werden, man könne dadurch eine Bewegung beschwichtigen und sich einer Unbequemlichkeit überheben. Die Zeit kann die Wunden eines einzelnen Menschen heilen, die Wunden eines Volkes heilt nur die Arbeit. Darum wird diejenige Regierung, welche in der Provinz Posen am Meisten zur Belebung, Schöpfung und Fortbildung der produktiven Kräfte dieses gesegneten Landes und seiner begabten Bewohner beigetragen hat, auch am Meisten zur Versöhnung aller Gegensätze gewirkt haben und darum halten wir trotz all‘ ihrer äußeren Härte die 10jährige Regierungszeit Flottwell’s noch immer für die humanste, für diejenige, auf welcher der ganze Kulturfortschritt Posens beruht, die zwar äußerlich strenge und ernst, wie die Arbeit selbst, aber den sittlichen Kern der Wahrheitsliebe und Humanität besaß. Und mag man dieser Regierungszeit auch hie und da einen Jrrthum nachzuweisen im Stande sein, eine Schwäche nie! Immerhin sind die Irrthümer eines großen Geistes belehrender, wie die Wahrheiten eines kleinen!

Berlin, Pfingsten 1870. H.v.H.

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Quellen:

Gelesen bei Google Books: https://books.google.de/books?id=2XFGAAAAcAAJ

zum Autor: http://karl-may-wiki.de/index.php/Hundt_von_Hafften

Karte von Posen: https://www.dilibra.com/ahnenforschung/160/ oder hier direkt herunterladen (ca. 12 MB)

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